Ängste

Angst (vom Wort „Enge” abgeleitet) ist ein Zustand, der durch Bedrohung bzw. Sich-bedroht-Fühlen ausgelöst wird. Es ist lebensnotwendig, auf ein plötzliches Alarmsignal sehr schnell reagieren zu können. Je nach Bedrohlichkeit kann man sich jetzt für Kampf oder Flucht entscheiden. Diese „Entscheidung” passiert als ein angeborener Reflex und gehört zur genetischen Grundausstattung des Menschen. Wenn es z.B. plötzlich laut knallt, reagiert der Körper auf verschiedene Weise ganz autonom: Stressreaktionen im Gehirn, Hormonausschüttungen, Erhöhung der Herz- und Pulsfrequenz, Erhöhung der Atemaktivität und der Muskelspannung, die Hautleitfähigkeit sowie die Temperatur in Händen und Füßen können sinken u.a. Wenn sich herausstellt, dass der Knall ein Schuss aus einer Spielzeugpistole war, wird eine Deaktivierung eingeleitet und nach einigen Sekunden kann sich der Mensch normalerweise wieder abregen.

Nun ist es aber so, dass sich viele Menschen von so einem „Angstknall” nicht so schnell erholen können und die Erregung länger anhält. Mehr oder weniger tiefgreifende kritische Lebensereignisse wie Trennungen, Beziehungs- und Arbeitsprobleme können Ängste auslösen, die sehr lange anhalten und schließlich zu körperlichen Symptomen führen. Das ist vor allem lebensgeschichtlich zu verstehen. Die Biografie von Männern ist zumeist von Angstvermeidung geprägt. „Ein Junge weint nicht” oder „Ein Indianer kennt keinen Schmerz” sind beispielsweise elterliche Anforderungen der Angstabwehr.

Angst zu haben und sie auch auszudrücken (und nicht wegzudrücken) gehört zum Leben genauso dazu wie Lust, Trauer, Freude usw. zu empfinden. Man kann sich gut vorstellen, dass eine im Körper ‚gebannte Angst’ (die weggedrückte) sich irgendwann Wege an die Oberfläche sucht, häufig in Form von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Dass sich hinter Krankheit, Unzufriedenheit, Frustration und Lustlosigkeit Angst verbirgt, ist vielen Menschen (und hier mehr Männern als Frauen) jedoch nicht bewusst, da sie ja gelernt haben, ihre Angst „abzustellen”.

Der Prozess der Angstabwehr wird biografisch sehr früh in Gang gesetzt. Wenn ein Säugling weint und schreit, weil es Kontakt zu seiner Bindungsperson herstellen möchte, dann setzen die gleichen Körperreaktionen ein wie beim oben beschriebenen plötzlichen Knall – man nennt sie auch „Stressreaktionen”. Alles im Körper geht in Alarmbereitschaft. Der Säugling kämpft mit lautem Schreien, weil er nicht flüchten oder sich verteidigen kann.

Wird das Bindungsbedürfnis auf längere Zeit nicht oder wenig befriedigt oder wird es andererseits zu schnell und dauernd mit Schnuller oder Nahrung zugedeckt, dann bleibt einem Baby nur die Resignation als einzige Fluchtmöglichkeit. Die Flucht findet im eigenen Körper statt, wird gespeichert und (unbewusst) gelernt.

Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren deutlich nachgewiesen, dass es ein biologisches Substrat für diese Angstprozesse gibt und dass Menschen in Abhängigkeit von ihrer emotionalen Grundausstattung („Nervenkostüm”) auf kritische Lebensereignisse je nach psychischer und hirnphysiologischer Prägung unterschiedlich reagieren. Das Spektrum reicht vom „Überwältigtsein” von eigenen Gefühlen (eher Frauen) bis zur Gefühllosigkeit (eher Männer).

Es lohnt sich (und ist gleichzeitig ein schmerzhafter Gesundungsprozess), hinter jedem Symptom eine sehr individuelle Angst zu vermuten und der eigenen Kränkungs- und Angstgeschichte zu begegnen.

Dr. Sabine Stiehler

Literatur:

Fritz Riemann: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. Reinhardt Verlag München 2006, 36. Auflage

Martin Seligman, Franz Petermann: Erlernte Hilflosigkeit. Beltz Verlag Weinheim 1995

Karin Grossmann, Klaus E. Grossmann (2004): Elternbindung und Entwicklung des Kindes in Beziehungen. In: Beate Herpertz Dahlmann, Franz Resch, Michael Schulte-Markwort (Hrsg.): Entwicklungspsychiatrie. Schattauer Verlag Stuttgart 2007, 2. Auflage

Internet:
www.wopalm.com/gehirn.htm

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