Sex und Rausch

„Drogen gab es doch schon immer seit es die Menschheit gibt“ – eine vielleicht etwas zu leichtfertig rechtfertigende Meinung zur Legitimierung des eigenen Konsums. Viel mehr sollten Gespräche über den Rausch stattfinden, der in Form von Trommelrhythmen, Tanzriten, rituellen Zeremonien, beim Sport, beim Genießen von Schokolade oder beim Sex beflügelt. Endorphine – Glückshormone – werden im Körper ausgeschüttet, erwecken die Möglichkeit sich neu zu entdecken, Grenzen der Eintönigkeit zu überschreiten und neue Vorlieben, Wünsche, Möglichkeiten der eigenen Selbstwahrnehmung zu erschließen. Allerdings bewirkt die Schnelllebigkeit der aktuellen Leistungsgesellschaft diesen Rausch, oft aus Bequemlichkeit, mit einfachen, effizienteren Methoden zu erlangen: Substanzkonsum.

Im letzten Jahrzehnt hat sich dabei im sexuellen Kontext ein neues Phänomen bei Männern, die Sex mit Männern (MSM) haben, etabliert: Chemsex. Der Begriff, der im anglikanischen Raum seit ca. 2004 und in Deutschland seit 2009 benutzt wird, beschreibt die Einnahme von bestimmten chemischen, psychoaktiven Substanzen zur Amplifizierung der eigenen sexuellen Kultur. Chemsex beschreibt dabei kein Phänomen herkömmlicher Traditionen von sexuellem Substanzkonsum wie er im Partyleben (recreational drugs) zwischen Menschen aller Geschlechter stattfindet., sondern geschieht zur Anregung des sexuellen Appetits, zum Abbau von Hemmungen, zur Steigerung des eigenen Sexualempfindens. Die Euphorisierung steht oft im Kontrast zu einer Pseudo-Intimität: intime Handlungen werden unter dem Einfluss von Drogen akzeptiert, die sonst nicht zugelassen worden wären.

Der gemeinsame Konsum findet auf Sex-Partys zumeist auf privaten After-Partys oder zu Hause statt, wobei die Substanzen gemeinsam über das gesamte Wochenende hinweg und in unterschiedlichen Kombinationen konsumiert werden. Die gebräuchlichen Substanzklassen sind Gamma-Butyrolactone (Vorstufe der Gamma-Hydroxybutyrate; GBL, GHB, „G“), Ketamine („Keta“), Christal Meth/Methamphetamine („Tina“, „T“, „Tante“) und Mephedron. Sie werden im sexuellen Kontext oft mit Poppers (Amylnitrit) sowie den PDE5-Inhibitoren (Sildenafil, Tadalafil u.a.) kombiniert (Bracchi 2015, Stuart 2016). Der Substanzkonsum geschieht inhalativ (Rauchen), intranasal (sniffing), intravenös (slamming), oral (Schlucken von „Bömbchen“) sowie rektal (Suppositorien). Das „slamming“ spielt dabei eine besondere Rolle.

Die Verbreitung vollzog sich parallel zu den bzw. innerhalb der Netzwerke und Online-Dating-Foren, unter MSM (Stuart 2016). Chemsex ist auch Resultat eines veränderten Umgangs mit Technologie (Dating-Applikationen, – Foren), erleichterter Verfügbarkeit von Sex einerseits und Substanzen andererseits. Die user sind oft international, gut vernetzt, reisefreudig und aus allen gesellschaftlichen Schichten. Genaue Daten sind schwierig zu erheben. Viele Nutzer vermeiden Befragungen aus Angst oder Schamgefühl, aber auch zum Schutz der „Chemsex-Community“ (Stuart 2016). Eine hohe Dunkelziffer ist daher anzunehmen. Validierte Untersuchungen sind rar.

Die Promotoren für den Gebrauch sexuell stimulierender Substanzen sind vielseitig: Selbstoptimierung des eigenen Lebens, wie er auf Facebook oder Instagram geschieht, wo eine idealisierte Realität „geliked“ und „geshared“ wird und den Leistungsdruck auf die perfekte Welt erhöht, wirkt sich gerade auch auf die Sexualität aus. Sichtbare Sexualität in Pornofilmen reduziert diese auf den Akt der reinen Penetration, möglichst 45 Minuten, mit mehreren Orgasmen, in heteronormativen Rollen. Intimität, Verschmelzungswunsch, das Riechen und Schmecken als sexueller Akt werden vernachlässigt. Diesem Leistungsdruck stehen Menschen ohnmächtig mit Angst vor Errektionsverlust und Performationsdruck gegenüber. Substanzkonsum hilft dagegen bequem wie auf Bestellung. Auch beim Austesten von eigenen Grenzen, bei der Abwehr sozialen Drucks, Kompensation von sozialen oder persönlichen Konflikten verringert Substanzkonsum Schamgefühl, senkt die Schwelle der Kontaktaufnahme (entaktogen) (Stuart 2016), bringt die Möglichkeit, sich neu zu entdecken, auszuleben – der Eskapismus/Ausbruch aus der Abgestumpftheit der eintönigen Normativität einer Leistungsgesellschaft. Diese Effekte können im Rahmen des schwulen coming out bzw. bei der sexuellen Identitätsfindung auch durchaus erwünscht sein.

Im Gespräch mit den usern hilft vor allem eine wertschätzende, vorurteilsfreie Kommunikation, die sich zwischen drei Punkten aufspannt: Die beratende Person sollte sich die Frage stellen „aus welchem Umfeld komme ich her, welche Vorurteile habe ich gegenüber Substanzkonsum?“ – ein*e Ärzt*in  bewertet so Alkoholkonsum ganz anders, rigider, wenn der eigene familiäre Hintergrund von alkoholabhängigen Eltern geprägt war. Dem gegenüber stehen die user – „Wo hole ich als beratende Person die user ab?“ hatten diese bereits stationäre Entzüge, geben sie uns einen klaren Behandlungsauftrag mit der Frage nach Unterstützung bei einem Überkonsum oder häufen sich einfach nur die Krankschreibungen und Befindlichkeitsstörungen als vielleicht Ausdruck eines beginnenden nicht wahrhaben wollenden Überkonsums? Als drittes entscheidet auch die aktuelle kulturelle Umgebung: befindet sich das Beratungssetting in einer Großstadt, wo tabuisierte Themen offener zur Sprache kommen oder befinden wir uns in Regionen mit kulturell ausgeprägten Stigmatisierungen gegenüber intimen Themen, wodurch ein offenes Ansprechen kaum zu ehrlichen Aussagen führt?

Entscheidend ist die Frage des uses oder abuses, des Gebrauches oder Über-/Missbrauches. Ist Sex auf GBL 1x/Monat am Wochenende ein kontrollierter Substanzkonsum? Wer entscheidet wo die Grenzen sind? Sicherlich helfen hier Fragen, inwiefern sich die Prioritäten im Leben des users hauptsächlich auf die nächste Sexparty konzentrieren, sich Freundeskreise rein auf Datingapp-Bekanntschaften beschränken oder finanzielle Mittel nur noch für Substanzen verwendet werden. Unter Mephedron bzw. Methamphetamin besteht schnell die Gefahr einer psychischen Abhängigkeit und eines damit einhergehenden Substanzmissbrauchs.

Der Substanzkonsum birgt das Risiko für die Infektion mit den klassischen sexuell übertragbaren Erkrankungen (Lues, Gonorrhoe, Chlamydien- und Mykoplasmen-Infektionen), daneben auch für die viralen Hepatitiden (A-C) sowie für HIV durch den gemeinsamen Gebrauch von Sexspielzeug, die gemeinsame intravenöse Applikation, und allem voran durch ungeschützten Geschlechtsverkehr („barebacking“). Chemsex erfolgt zumeist mit wechselnden Geschlechtspartnern, beim Gruppensex und im Kontext risikoreicher Sexualpraktiken („Fisting“, „Sounding“).

Vor allem aber ist unter Drogeneinfluss die interpersonelle Kommunikation bezüglich einvernehmlicher Sexualpraktiken erschwert (consensual Sex) (Bourne 2015).

Der fehlende Zugang zu Informationen, Vorurteile und die Stigmatisierung stellen Risiken dar (Villarreal 2017). Der Großteil der Nutzer passiert eine Phase im Leben mit Substanzkonsum ohne Zwischenfälle, eine wachsende Zahl jedoch mit schweren körperlichen und psychischen, teils lebensbedrohenden Traumata (Hudson 2017).

Langfristig können wir diesem Phänomen auf verschiedenen Ebenen begegnen: verbale Interventionen, Aufklärung und Beratung für user vor allem in niedrigschwelligen Angeboten der schwulen Community bzw. der Selbsthilfe. Diese Angebote sind besonders wertvoll in Verbindung mit dem Zugang zu kostenfreien STD-Testungen und anonymen Substanzchecks. Es etabliert sich zunehmend die Begleitung von kontrolliertem Konsum durch ein starkes Netzwerk aus NGOs und Selbsthilfe-, Sport- sowie Freizeitgruppen. Spezialisierte ambulante und tagesklinische Einrichtungen sowie stationäre Entzugskliniken zur Langzeitentwöhnung und Rehabilitation sind rar. Der Fokus zukünftiger Therapien sollte auf dem Umgang mit Sexualität, Intimität und Körperarbeit liegen. Berührung, körperliche Nähe aushalten, Massagen, Entspannungsübungen, Atemtraining, Meditation, gemeinsame Bewegungsübungen, Gespräche mit anderen usern und erfahrenen medical Professionals  schaffen Vertrauen im Umgang mit der eigenen Scham und sensibilisieren für ein neues, bewusstes, nachhaltiges Erlebnis von Stimulation, welches später auch bei sober Sex unterstützen und wieder zu einem Rausch führen kann. Es zeigen sich interessante, erfolgversprechende Ansätze in „mindfullness-based“ komplementären psychosozialen Interventionen (Gonzales-Baeza 2017), doch vor allem sollte die Verantwortung zurück in die Community gegeben werden: Körperarbeit von und mit usern, offene Mikrofone (wie z.B. Let’s talk about Sex and Drugs in Berlin) oder offene Abende in community nahen Bars/Cafés, welche zu Gesprächen um „Sexualität“ oder „Männlichkeit“ einladen.

Dr. M. Viehweger /// Oberarzt Checkpoint Zürich /// Infektiologe Praxis Cordes Berlin /// mail@martinviehweger.com

weiterführende Literatur

Bracchi M1, Stuart D, Castles R, Khoo S, Back D, Boffito M. Increasing use of ‘party drugs’ in people living with HIV on antiretrovirals: a concern for patient safety. AIDS. 2015 Aug 24;29(13):1585-92.

Bourne A, Weatherburn P. “Chemsex” and harm reduction need among gay men. International Journal of Drug Policy. December 2015. 26 (12), 1171-1176.

Bourne et al. The Chemsex Study. Sigma Research, London School of Hygiene & Tropical Medicine, 2014.

González-Baeza A, et al. Effectiveness of a mindfulness-based intervention, 2017. IdiPAZ EACS, Poster.

Stuart D. A chemsex crucible: the contex and the controversy. J Fam Plann Reprod Health Care, 2016, 42(4):295-296.

Villarreal D. Meth: Alcohol and Other Drugs Harm More People. Hornet, Article April 15, 2017. 2

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