Sexmythen

Was ist ein Mythos?

Wissen, das viele teilen, ohne dass dafür wissenschaftliche Erklärungen existieren.
Mythen sind Botschaften, die wir von Geburt an bis zum Tod – durch Medien, Eltern und Freunde überliefert – aufnehmen und verinnerlichen. Das Gute an ihnen ist, dass sie versuchen zu beschreiben, was sich unserem rationalen Denken entzieht: Kinder etwa lernen abstrakte Zusammenhänge am besten anhand von Märchen und Phantasiegeschichten zu verstehen.

Mythen können jedoch auch negative Kräfte entfalten, wenn sie ungeprüft übernommen werden: Sie suggerieren uns modellhafte Ideale, die wir weder real vorfinden noch so umsetzen können.

Mythen in der Sexualität

Hier wimmelt es nur so von mythisch-überhöhten Vorstellungen, die sich über die Generationen hinweg zwar verändert haben, aber auch noch in der heutigen, aufgeklärten Gesellschaft fortbestehen. In der Öffentlichkeit hält sich hartnäckig das Bild von vollkommenen “Supermännern” und “Superfrauen”, die miteinander oder untereinander Sex haben. Sie sind mit vollkommenen Körpern ausgestattet, mit Penissen so hart und kolossal wie Baseballschläger bzw. mit Brüsten so fest und üppig wie Honigmelonen.

Das Thema Sexualität beschränkt sich in unserer Kultur vorzugsweise auf den Geschlechtsakt sowie der damit verbundenen Funktions- und Leistungsfähigkeit unseres sexuellen Apparates. Es lässt sich nichts Schlechtes daran finden, miteinander Geschlechtsverkehr und nur diesen zu haben. Es scheint jedoch, als würden diese verinnerlichten Stereotype es uns erschweren, Sexualität frei und ganzheitlich auszuleben.

Bernie Zilbergeld, ein renommierter amerikanischer Sexualtherapeut, hat in vielen seiner Bücher anschaulich erläutert, welchen Sexualitäts-Mythen er – durch die Arbeit mit Männern – in seiner Praxis immer wieder begegnet. Er bezeichnet diese kulturellen Zerrbilder als “Phantasiemodell vom Sex”. Einige bezeichnende Mythen seien an dieser Stelle kurz vorgestellt:

“Wir sind aufgeklärte Leute und fühlen uns wohl beim Sex”

Wir sind der Ansicht, dass die sexuelle Revolution uns in Sachen Sex aufgeklärt und offener gemacht hat. In Filmen, Büchern und Zeitschriften, die uns etwas über die Erotik erzählen wollen, scheint es keine Tabus zu geben. Alle fühlen sich wohl, jede Gelegenheit, “einen Treffer zu erzielen”, wird genutzt und geredet wird nicht viel – über sexuelle Unsicherheiten oder Probleme schon gar nicht.

Schauen wir auf die Realität, so gibt es wohl keinen Menschen, der sich sexuell uneingeschränkt wohlfühlt oder alle Hemmungen abgelegt hat. Wir brauchen nur einen Blick auf die Sexualerziehung unserer Kinder zu werfen: Eltern sind unsicher, wenn ihre Kinder sie nach der Herkunft der Babys fragen, oder reagieren verstört, wenn ihre Kinder masturbieren. Sexualität hat auch heute noch etwas Anrüchiges: Wie sonst lassen sich unsere Komplexe in Bezug auf das Thema erklären?

“Jede Berührung ist sexuell oder sollte zu Sex führen”

Männer und Frauen sind im Hinblick auf Zärtlichkeit unterschiedlich sozialisiert: Für Männer dienen Streicheln und Kuscheln häufig als Mittel zum (sexuellen) Zweck. Frauen hingegen sehen in der Berührung an sich die Hauptsache – sie schmusen, um zu schmusen.

Dies verursacht im Alltag eine Reihe von Missverständnissen und Kontroversen. Durch die tief verwurzelte Vorstellung der Männer, körperliche Nähe hätte immer sexuellen Charakter, betrügen sich Männer selbst um das emotionale (non-sexuelle) Bedürfnis nach Streicheleinheiten und einfachen Berührungen.

Augenscheinlich wird dieser Mythos zum einem im Partnerschaftsverhalten, zum anderen aber auch im eher körperlich-distanzierten Umgang der Männer untereinander. Gehen Väter zu ihren Söhnen auf körperliche Distanz, so werden diese später dieselbe Anschauung in ihr Handlungsrepertoire übernehmen.

“Männer können und wollen jederzeit”

Dieser Mythos impliziert, dass Männer keine Gelegenheit auslassen, ihren Samen zu verstreuen. Es erscheint ihnen undenkbar, eine noch so kleine Einladung zum Geschlechtsverkehr abzulehnen. Sie haben nicht gelernt, ihre eigene bzw. die Unlust der Partnerin/des Partners für sich selbst zu einzugestehen. Stattdessen verspüren Männer einen ungeheuren Druck, so früh und häufig wie möglich Sex zu haben, obwohl sie (noch) nicht dazu bereit sind. In der Realität bringt das nur Ärger ein, da im Nachhinein nichts frustrierender ist als ungewollter Sex.

“Sex ist gleich Geschlechtsverkehr”

Die Begriffe Geschlechtsverkehr und Sexualität werden in der Öffentlichkeit und in den Medien überwiegend synonym verwendet. Diese Ansicht spiegelt sich auch in der sexuellen Praxis von Paaren wider. Zärtliche Berührungen, Küsse, orale Stimulation sowie Masturbation sind keine eigenständigen Bestandteile von Sexualität – sie dienen vielmehr zur Einleitung des Koitus.

Männer wie Frauen (obwohl sie dadurch allein oft nicht zum Orgasmus kommen) sehen im Geschlechtsverkehr den Hauptakt ihrer sexuellen Intimität, ohne den der “Vorhang nicht fallen” darf. Nichts spricht gegen die Vereinigung von Penis und Vagina, aber warum sollten wir nicht ein wenig mehr erotisches Potential ausschöpfen? Das könnte uns dabei helfen, den Sex ohne Leistungsdruck zu genießen, unsere Sinne stärker einzubeziehen und weitere Spielräume zu eröffnen, wenn wir beispielsweise aus körperlichen Gründen keinen Geschlechtsverkehr haben können. Gleichzeitig können wir uns dadurch aus der Fixierung auf den männlichen Penis lösen, an dessen Größe, Härte und Funktionstüchtigkeit guter Sex irrtümlicherweise gemessen wird – aus der Männer- ebenso wie aus der Frauenperspektive.

“Guter Sex ist spontan, da gibt es nichts zu planen oder zu reden”

Besonders uns Deutschen wird nachgesagt, dass wir sämtliche Angelegenheiten sehr akribisch planen. In Bezug auf unsere Sexualität lässt sich davon jedoch nicht sprechen.
Viele Menschen sind der Ansicht, dass sich das Liebesspiel stets spontan und ohne größere Ankündigungen entwickeln sollte. Darüber zu reden – vor, während und nach dem Sex – ist in unserer Gesellschaft alles andere als üblich. Das Beharren auf Spontaneität stellt in Wirklichkeit eine Strategie dar, die es uns ermöglicht, ohne Worte – wir könnten ja in Verlegenheit geraten – miteinander zu verkehren.

Das soll kein Plädoyer dafür sein, dass wir mittels Planung Spontaneität ausschließen, sondern vielmehr ein Hinweis darauf, dass der Mangel an gemeinsamen Absprachen häufig zu schlechterem und sogar weniger Sex führt, als wir es uns wünschen.

Keine Macht den Mythen

Die Liste der Sex-Mythen ließe sich noch weiter fortsetzen, die Kernaussage dürfte jedoch klar geworden sein: Unreflektiert und unausgesprochen übernommene Vorstellungen über Sexualität beherrschen unser Dasein stärker, als wir dies wahrhaben wollen. Unsere gesamte Kultur ist durchzogen von diesen unsichtbaren, überhöhten Bildern, die sexuellen Leistungsdruck, Hemmungen und sogar Probleme hervorrufen können.
Guten Sex zu haben, ist vielleicht eine der schönsten Sachen der Welt Sie ist aber keinesfalls so glitzernd und problemlos, wie wir uns das vorstellen. Es entspricht nicht der Realität, wie beispielsweise durch billige Softpornos vermittelt wird, dass im Bett alles perfekt und reibungslos über die Bühne geht.

Im Umkehrschluss soll das jedoch nicht bedeuten, dass wir gegen diese Mythen ankämpfen müssen. Vielen Paaren wäre schon geholfen, wenn sie sich ihrer Befindlichkeiten in Bezug auf das Liebesspiel bewusst werden würden.

Missverständnisse und unerfüllbare Ansprüche treten dort auf, wo Phantasiebilder nicht mit der Wirklichkeit zu vereinbaren sind. Im offenen Dialog über Sex haben wir die Möglichkeit, verankerten Zerrbildern kritisch zu begegnen. Am Ende werden wir vielleicht erkennen, dass es uns weniger um Leistung als um sinnliche Empfindungen geht.

Stephan Hermann

weiterführende Links:

In der Onlineausgabe der Tageszeitung “Welt” finden Sie einen Artikel der sich großen Irrtümern beim Thema widmet:
http://www.welt.de/vermischtes/article735774/

Auf der Webseite der “Selbsthilfegruppe Erektile Dysfunktion” gibt es eine Übersicht populärer Sexmythen in Bezug auf das männliche Geschlecht sowie einen weiterführenden Artikel der anschaulich beschreibt, wie sich diese überwinden lassen:
http://www.impotenz-selbsthilfe.de/annaeherung/mythen.html

Ein Beitrag des “Spiegel” widmet sich dem Klischee vom frühreifen und verantwortungslosen Verhalten Jugendlicher in Bezug auf Sexualität:
http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/0,1518,446108,00.html

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